innerdeutsche Beziehungen

innerdeutsche Beziehungen
innerdeutsche Beziehungen,
 
in der Zeit der deutschen Teilung (1945/49-90) Bezeichnung für die Gesamtheit der Beziehungen (einschließlich der privaten Kontakte) über die innerdeutsche Grenze, im engeren Sinn für die staatlichen Kontakte zwischen Bundesrepublik Deutschland und DDR; als Terminus in der Bundesrepublik Deutschland seit etwa Mitte der 60er-Jahre üblich. In der bundesdeutschen Deutschlandspolitik galten (nach der Rechtsauffassung zum Fortbestehen des Deutschen Reiches nach 1945) die innerdeutschen Beziehungen als ein »Verhältnis besonderer Art«, da die DDR nicht als Ausland betrachtet wurde. Die offizielle DDR-Politik fasste die innerdeutschen Beziehungen jedoch - ab den 1970er-Jahren nach dem Grundsatz der »Abgrenzung« - als »normale« zwischenstaatliche Beziehungen auf (deutsche Einheit).
 
Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war 1949 ein »Ministerium für gesamtdeutsche Fragen« (seit 1969 »Ministerium für innerdeutsche Beziehungen«) gebildet worden, dessen Wirken bestimmt war von der in der Präambel des GG verankerten Verpflichtung die Einheit der deutschen Nation wiederzuerlangen; nach staatlicher Wiederherstellung der deutschen Einheit (3. 10. 1990) wurde das Ministerium am 18. 1. 1991 aufgelöst. Besondere innerdeutsche Beziehungen auf staatlicher Ebene entstanden - nach Anfängen 1967 in der Zeit der »großen Koalition« unter K. G. Kiesinger - mit der Abkehr von der Hallsteindoktrin und dem Übergang zur neuen Ostpolitik durch W. Brandt (ab 1970; erste Treffen auf höchster Regierungs-Ebene in Erfurt und Kassel). Nach langwierigen Verhandlungen kam es am 21. 12. 1972 zum Abschluss des deutsch-deutschen Grundvertrages, der fortan als Basis und Rahmen für die innerdeutschen Beziehungen bestimmend wurde. Zusammen mit dem Transitabkommen (17. 12. 1971, dem Verkehrsvertrag (26. 5. 1972 und den späteren Verträgen verdeckte der Grundvertrag jedoch nicht die grundlegend unterschiedlichen Auffassungen beider deutscher Staaten in deutschlandpolitischen und internationalen Fragen. Mit der Formalisierung der innerdeutschen Beziehungen durch den Grundvertrag richteten beide Staaten 1974 beim Regierungssitz des anderen ständige Vertretungen ein. Bei der Gestaltung der innerdeutschen Beziehungen standen für die Bundesrepublik Deutschland neben der Einbeziehung von Berlin (West) Regelungen im Vordergrund, die bestehende Bindungen auf organisatorischem und humanitärem Gebiet erhalten und verbessern sowie neue aufbauen sollten; die DDR war v. a. interessiert an der Verdeutlichung ihrer Eigenstaatlichkeit und der Intensivierung des innerdeutschen Handels.
 
Eine große Bedeutung in den innerdeutschen Beziehungen hatte besonders der Verkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie der Transitverkehr von der Bundesrepublik Deutschland nach Berlin (West) und umgekehrt (Berlinverkehr; innerdeutscher Verkehr). Rechtsgrundlage des landgebundenen Verkehrs zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie des Transitverkehrs in Drittstaaten war seit 1972 der Verkehrsvertrag; nicht geregelt waren der Personenverkehr mit Seepassagier- und Binnenschiffen und der Luftverkehr. Gemäß Art. 11 galt im Eisenbahnverkehr das Personenbeförderungs- und Frachtrecht des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) auch für das Verhältnis zwischen beiden deutschen Staaten. Für Gütertransporte im Straßenverkehr galten das Zollabkommen über den internationalen Warentransport mit Carnets TIR und das Europäische Abkommen über die internationale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße (ADR). Im bilateralen Binnenschiffsverkehr bedurfte es für das Befahren der Wasserstraßen des anderen Gebietes mit Ausnahme der Kabotage seit 1971 keiner Erlaubnis mehr; Transitverkehre in die Tschechoslowakei und nach Polen waren möglich. Rechtsgrundlage im Berlinverkehr waren seit 1971 das Berlinabkommen und das Transitabkommen. Statt der bis dahin individuellen Visa- und Straßenbenutzungsgebühren zahlte die Bundesregierung eine jährliche Pauschale (1980-89 jährlich 525 Mio. DM). Seit 1973 bestand im Güterverkehr eine Verplombungspflicht der Transportgefäße, um die »unerlaubte Ausreise« aus der DDR zu verhindern. Für jeden Verkehr in und durch die DDR, der außerhalb der Transitstrecken nach und von Berlin (West) ablief, und für den Transit der Westberliner in an die DDR angrenzende Länder außer der Bundesrepublik Deutschland galt der Verkehrsvertrag. Grenznahe Regionen in der Bundesrepublik Deutschland genossen 1971-94 zum Ausgleich von Standortnachteilen eine besondere steuerrechtliche oder wirtschaftliche Förderung (Zonenrandgebiet). Auf der Basis des Grundvertrags bestand seit 1973 eine Grenzkommission, die v. a. die innerdeutsche Grenze markieren, daneben aber auch zur Lösung anderer Grenzprobleme (z. B. grenzüberschreitende Schadensregulierungen) zur Verfügung stehen sollte. Fragen des Rechts- und Amtshilfeverkehrs stießen auf gegensätzliche Auffassungen im Rechtsverständnis und in Staatsangehörigkeitsfragen und standen damit Vereinbarungen auf diesem Gebiet entgegen. Unter Ausklammerung der kontroversen, die Spaltung Deutschlands bestimmenden Grundsatzfragen kam es u. a. zu Abkommen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens (1974), des Post- und Fernmeldewesens (1976), des Veterinärwesens (1979), der Kultur (1986) sowie der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, des Umweltschutzes und des Strahlenschutzes (alle 1987 beim Staatsbesuch von E. Honecker in Bonn abgeschlossen).
 
Auf verschiedenen politischen Ebenen (Regierungen, Parteien, Gewerkschaften) sowie im Rahmen des innerdeutschen Handels (z. B. auf der Leipziger Messe) bestanden vielfältige offizielle Kontakte. Auch die engen und weit gefächerten Kontakte im kirchlichen Bereich bildeten einen stabilisierenden Faktor in den innerdeutschen Beziehungen; nach dem Staatsbesuch von Bundeskanzler H. Schmidt in der DDR (Dezember 1981) war es u. a. auch zu einer Zunahme deutsch-deutscher Städtepartnerschaften gekommen (die erste zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt am 23. 4. 1986; bis 1989: 58). Die Beziehungen zwischen den Menschen blieben jedoch bis 1989/90 bestimmt von vielen künstlichen Barrieren. Im Systemantagonismus zwischen Osten und Westen waren sie getrennt durch die zum Symbol der Teilung gewordene innerdeutsche Grenze. Informationsaustausch blieb durch die restriktive Informationspolitik der SED für die DDR-Bürger im Wesentlichen beschränkt auf den privaten Empfang westlicher Hörfunk- und Fernsehprogramme (für etwa 90 % der DDR-Bürger möglich). Die Einreisemöglichkeiten (nach 1961) in die DDR wurden für die Bürger der Bundesrepublik Deutschland durch den Verkehrsvertrag und den Grundvertrag, für Westberliner durch die Vereinbarungen des Senats von Berlin (West) mit der Regierung der DDR in Ausführung des Berlinabkommens (1972) erweitert; für die Bürger der DDR gab es weiterhin nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, zu reisen. Ausnahmen galten für Rentner und Invaliden (seit September 1964; seit Oktober 1972 Reisemöglichkeit für maximal 30 Tage im Jahr) sowie für Personen beliebigen Alters in dringenden Familienangelegenheiten (seit 1972), wobei darauf kein einklagbarer Rechtsanspruch bestand. Am 26. 8. 1987 erhöhte die Bundesregierung das »Begrüßungsgeld« von 30 auf 100 DM. Bundesbürger und Westberliner unterlagen bei Reisen in die DDR einer Meldepflicht bei den Meldestellen der Polizei (innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Einreise) und der Verpflichtung, 25 DM pro Aufenthaltstag (Rentner 15 DM, Jugendliche zwischen dem 14. und 15. Geburtstag 7,50 DM, Kinder frei; seit 9. 10. 1980) umzutauschen (Zwangsumtausch; eingeführt am 25. 11. zum 1. 12. 1964, am 15. 11. 1974 erstmalig erhöht; am 1. 8. 1984 zum Teil herabgesetzt). Mehrmalige Einreisen von Bundesbürgern und Westberlinern bis zu einer Gesamtdauer von 45 Tagen im Jahr waren möglich, die Aufenthaltsgenehmigung galt in der Regel für das gesamte Gebiet der DDR. Darüber hinaus hatten die Bewohner von 58 grenznahen Stadt- und Landkreisen die Möglichkeit, zu Tages- oder Zweitagesaufenthalten in den grenznahen Bereich der DDR einzureisen (grenznaher Verkehr). So wurden 1987 z. B. 12,3 Mio. (1980: 9,8 Mio.) Ein- und Ausreisende (ohne Übergangsstellen in Berlin) im Personenverkehr zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR gezählt.
 
Die KSZE-Schlussakte (1975) löste im Hinblick auf die Wahrnehmung des Rechts auf Freizügigkeit eine steigende Welle von Anträgen auf Ausreise aus der DDR aus; mit der Zuflucht in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Berlin (Ost) suchten zahlreiche Bürger der DDR in den 80er-Jahren die Genehmigung ihres Ausreisewunsches zu erzwingen. Ihren Höhepunkt erreichten diese Vorgänge mit den Massenfluchten in die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Budapest und Warschau im Sommer/Herbst 1989. Diese wurden zu einem wesentlichen Auslöser der (Massen-)Demonstrationen in Teilen der DDR, die schließlich eine gesamtdeutsche Entwicklung möglich machten. (deutsche Geschichte)
 
 
J. Nawrocki: Die Beziehungen zw. den beiden Staaten in Dtl. (21988);
 
Dtl.-Hb. Eine doppelte Bilanz 1949-1989, hg. v. W. Weidenfeld u. H. Zimmermann (1989);
 R. Engelmann u. P. Erker: Annäherung u. Abgrenzung. Aspekte deutsch-dt. Beziehungen 1956-1969 (1993);
 
Dtl., eine Nation - doppelte Gesch., hg. v. W. Weidenfeld (1993).

Universal-Lexikon. 2012.

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